Gastbeitrag, Große Stunden, Praxis trifft Theorie, Psychologie, von wegen Privat ;-)
Kommentare 1

Reisescham

Zuletzt aktualisiert am 14. August 2019 um 18:23

Wie Bolle freue ich mich auf einen Gastbeitrag, der einer persönlichen Korrespondenz zwischen Tochter und Vater entsprang – Reisescham – den ich hier gern weiter gebe:

– –

Hi Papa,

ich bin vor ein paar Tagen über einen Artikel in der Zeit gestoßen, in dem die Autorin das Reisen als Höhepunkt der freien und offenen Gesellschaft in Frage stellt. Das hat mich irgendwie ins grübeln gebracht und ich habe seit dem mit ein paar Leuten drüber diskutiert. Und habe mich dabei an unser Gespräch in Neuseeland erinnert: Ab wann wird „Urlaub“ zu „Reisen“?

Wenn man wie lange weg vom Alltag in einer möglichst fremden Kultur oder an einem möglichst fernen Ort ist, ist das kein Urlaub mehr? Ich habe damals gesagt, dass ich finde, dass ein Urlaub zur Reise wird, wenn man sich einen Alltag aufgebaut hat. Wenn man das Gefühl hat dort zu leben und es im besten Fall kein Abreisedatum gibt, man keinen Rückflug gebucht hat.

Damals war ich sehr überzeugt, dass Reisen das Ziel und das Mittel ist, um die Welt, die Menschen und sich selbst kennenzulernen.

Reisen als Hobby

Bei meinen FreundInnen und anderen Gleichaltrigen war es unbestrittener Konsens, dass Reisen ein cooles Hobby ist, das zeigt, wie mutig, weltoffen und interessiert man ist. Alle hatten das in unterschiedlicher Ausprägung vor, nach der Schule, während des Studiums, wenn man „frei“ ist.

Aber in letzter Zeit betrachte ich das Reisen kritisch. Ich habe mit auf meinen letzten Reisen immer wieder dabei ertappt mich zu fragen, was ich da eigentlich tue. Ich habe mich unwohl gefühlt, wie eine Gafferin, der da nichts zu suchen hat. Man sucht ein „authentisches Reiseerlebnis“ und will mitten im Leben der Leute dabei sein. Aber ist das nicht Voyeurismus?  Und ist die exotische Kultur die man erleben will nicht meistens doch eine für TouristInnen präsentierte Show?

Wenn ich aus dem Stegreif die Länder aufzählen sollte, in denen ich in den letzten fünf Jahren war, würde mir das peinlicherweise gar nicht so leicht fallen.

Irgendwie verfließen die Semesterferien, Reiseziele und Erfahrungen ineinander. Als mir das bewusst wurde habe ich mir die Frage gestellt: Ist das Reisen meiner Millenial-Generation überhaupt noch ein Akt der Völkerverständigung? Oder feiert man im Endeffekt nur die eigene Überlegenheit („Wow, so ein geiles Essen für 5 €, das ist ja nichts!“)?

Eine Bekannte hat mir vor kurzem erzählt, dass sie bei ihrer Südamerikareise  „nur Argentinien, Peru und Bolivien gemacht“ hat. Da hat sich mir der Magen umgedreht. Gemacht?! Ist das Reisen auf das hedonistische Konsumieren von außergewöhnlichen Erlebnissen reduziert worden, nach denen bucketlists (die auch nur to-do-Listen sind) abgehakt oder Länder auf travelmaps freigerubbelt werden? Dreht sich der Ausflug (oder die ganze Reise), wenn man ganz ehrlich ist, im Kern vor allem geile, sonnige oder arktische Storys auf Instagram?

Schlechtes Gewissen – Reisescham

Das ökologischen Bewusstsein ums Reisen ist gerade in aller Munde. Es ist jetzt irgendwie in regional zu reisen, Deutschland und Europa mit dem Zug zu erkunden und die jetset-Mentalität zurückzuschrauben. Ich bin da ganz vorne dabei, weil ich 2018 zehnmal geflogen bin und mir vor lauter Flugscham vorgenommen habe, jetzt mal ein paar Jahre nicht zu fliegen…

Um so mehr ich darüber nachdenke, um so absurder erscheint es mir, dass es (jenseits des schlechten Wissens der Umwelt wegen) als ein unbestritten positiver Freizeitvertreib gesehen wird, sich in den Ferien das Leben von anderen, wahrscheinlich weniger priviligierten Menschen, anzugucken und das möglichst autentisch erleben zu wollen.

Privileg Wohlstand

Vielleicht ist das auch alles zu kurz gedacht, da Tourismus vielen Regionen Geld und Wohlstand bringt und weltweit unzählige Menschen davon leben. Und außerdem bin mir bei diesen Gedanken durchaus meiner privilegierten Stellung als vielgereiste-Mitzwanziger-Weißen bewusst. Vielleicht kommen mir diese Gedanken und Zweifel nur, weil ich schon unglaubliche Möglichkeiten in meinem jungen Leben hatte, wunderbar verschiedene Orte und Menschen auf der Welt kennenzulernen.

Ich hab’s auch noch nicht ganz durchdrungen, aber vielleicht haben wir ja mal ’nen Sonntagsspaziergang oder langen Winterabend vor uns und können zusammen darüber nachdenken.

Ich hoffe, es geht dir gut! Liebe Grüße,
Karen

Hier ist der Artikel, der mir den Anstoß gegeben hat, das unwohle Gefühl auf Reisen in Worte zu fassen: https://www.zeit.de/kultur/2019-07/reisen-tourismus-japan-tokio-fernreise?utm_source=pocket-newtab

– –

Anmerkung des Vaters: „Ich freue mich auf das Gespräch!“

1 Kommentare

  1. Ulrike Grandjean sagt

    Kommt gerade passend, weil meine Kinder sich gerade auf den Weg in die weite Welt machen! Leite den Beitrag als Inspiration und zum „Gedanken machen“ weiter! Danke?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.